Am 15. Oktober 2024 fand in Berlin das Festival für Finanzbildung „Mit Geld und Verstand“ statt.
Das Event wurde vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) organisiert und legte den Schwerpunkt darauf, finanzielle Bildung in die Praxis zu bringen.
Die Nationale Finanzbildungsstrategie sollte nicht nur an diesem Tag lebendig werden, sondern auch in Zukunft. So können wir alle unseren Teil dazu beitragen. Mein Beitrag an diesem Tag war dieser Workshop, der sich mit der Frage der Umsetzungsdefizite beschäftigte:
Viele Menschen kümmern sich nicht ausreichend um ihre Finanzen. Deshalb bleibt es wichtig, regelmäßig zu hinterfragen, wie wir diese Herausforderung neben der reinen Wissensvermittlung – sei es in der schulischen Finanzbildung, in der Erwachsenenbildung oder in der sozialen Arbeit – erfolgreicher angehen können. Unser Ziel ist es, den Transfer von Wissen in die Praxis sicherzustellen oder zumindest so zu gestalten, dass er wahrscheinlicher wird. Doch wie erreichen wir das?
Im Workshop haben wir uns Bereiche angeschaut, in denen besonders auffällige Umsetzungsdefizite bestehen – speziell bei Menschen mit ADHS. Bei ADHS tritt das Problem auf, dass die Selbstregulation oft nicht ausreichend wirksam ist, um Aufgaben, Probleme und Ziele konsequent zu bewältigen. Ein Hauptgrund dafür ist, dass viele nicht gelernt haben, bewusst und effektiv mit ihren kognitiven Voraussetzungen umzugehen. Stattdessen werden oft Kompensationsstrategien entwickelt, die den Transfer von Theorie in die Praxis weiter erschweren.
Wenn das der Fall ist, müssen wir diese unsichtbaren kognitiven Herausforderungen besser verstehen. Nur so können wir Maßnahmen ableiten, die das Handeln in der finanziellen Bildung erleichtern, ermöglichen und verbessern.
Genau darum ging es in diesem Workshop. Es waren spannende und erkenntnisreiche 45 Minuten mit Ihnen – vielen Dank, dass Sie dabei waren. Leider war zum Schluss die Zeit etwas knapp, daher habe ich den Inhalt des Workshops hier für Sie zusammengefasst. Viel Spaß beim Nachlesen! Sollten Sie Fragen haben oder Interesse an Vernetzung und Austausch, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren. Ich würde mich sehr darüber freuen.
Ihre Kirstin Wulf
Das klingt großartig! Wir kommen hier zusammen, um der Finanzbildung in Deutschland einen kräftigen Schub zu geben, damit endlich mehr passiert als in all den Jahren zuvor. Seit 2012 bin ich mit bricklebrit in der finanziellen Bildung tätig, und es freut mich besonders, dass jetzt so viel mehr Bewegung in die Sache kommt. Die Analyse zeigt, dass es Nachholbedarf gibt und dringend Handlungsbedarf besteht. Zu viele Menschen kümmern sich nach wie vor zu wenig um ihre Finanzen. Das ist eine auffällige Tatsache. Die Lösung? Der Plan, finanzielle Bildung verbindlich in die Schulen zu integrieren, damit jede:r schon frühzeitig mit diesen Themen in Berührung kommt. Denn wer besser informiert ist, trifft auch bessere Entscheidungen.
Aber was ist, wenn Menschen auch aus einem anderen Grund keine oder unzureichende Entscheidungen treffen – nicht, weil sie nicht genug wissen?
Genau diesem Grund wollen wir uns heute in diesem Workshop widmen. Oft ist es der gleiche Grund, der es manchen Menschen besonders schwer macht, das vermittelte Wissen in ihr eigenes Leben zu übertragen und dort anzuwenden – manchmal sogar viele Jahre später. Wie können wir uns diesen Herausforderungen anders, neu und wirksamer widmen? Wenn wir annehmen, dass Wissen nicht die alleinige Antwort auf diese Probleme sein kann, brauchen wir neue Konzepte, denn die Ursachen sind oft vielschichtiger. Nur durch die richtige Analyse können wir effektive Lösungen finden – oder?
Ich gehe davon aus, dass die folgenden Herausforderungen, die in der Praxis häufig zu beobachten sind, mit reiner Wissensvermittlung allein nicht bewältigt werden können:
Ein zentraler Aspekt, den wir in diesem Zusammenhang betrachten sollten, ist die Selbstregulation. Wenn Selbstregulation nicht erfolgreich angewendet wird, zeigen sich häufig Defizite im Handeln, die sich auch negativ auf die Ergebnisse auswirken. Diese Überlegungen haben mich besonders mit dem Thema ADHS beschäftigt, da diese Entwicklungsstörung als Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Selbstregulation definiert werden kann.
Während viele Menschen punktuell oder phasenweise mit solchen Defiziten konfrontiert sind, ist das charakteristische Merkmal von ADHS die chronische Natur dieser Herausforderungen.
Diese Beeinträchtigungen führen zu einer eingeschränkten Kontrolle von Emotionen, Gedanken und Handlungen und betreffen nicht nur sporadisch, sondern in der Regel alle Lebensbereiche.
Daher halte ich es für vielversprechend, diese Aspekte zu berücksichtigen, wenn wir darüber nachdenken, wie wir die Wirksamkeit finanzieller Bildung verbessern können.
Selbstregulation bezeichnet die Fähigkeit, eigene Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen zu kontrollieren und zu steuern, um gesetzte Ziele und Absichten erfolgreich umzusetzen. Laut dem US-Psychologen Russell Barkley umfasst Selbstregulation eine Reihe von exekutiven Funktionen (EF), die entscheidend sind, um überlegte Entscheidungen zu treffen und Impulse zu kontrollieren. Diese kognitiven Funktionen beinhalten unter anderem Planung, Organisation, die Nutzung des Arbeitsgedächtnisses und die Kontrolle von Emotionen.
Selbstregulation spielt eine besonders wichtige Rolle im Alltag: Wenn wir beispielsweise ein Budget aufstellen, aber impulsiv entscheiden, etwas Teures zu kaufen, deutet dies auf Schwierigkeiten mit der Selbstregulation hin. Diese kognitiven Herausforderungen sind oft unsichtbar, da sie in den inneren Prozessen unseres Denkens ablaufen.
Für viele Menschen sind Defizite in der Selbstregulation spürbar, da sie häufig mit negativen Konsequenzen verbunden sind, wie unzureichendem Geldmanagement oder dem Gefühl, nicht die Kontrolle über das eigene Verhalten zu haben. Darüber hinaus tendieren viele dazu, kurzfristige Belohnungen zu suchen und langfristige Ziele aus den Augen zu verlieren.
Automatisierte Prozesse und Aufgaben, wie das Zähneputzen oder Kaffeekochen, erfordern wenig mentale Energie und laufen oft unbewusst ab. Das heißt, diese Gewohnheiten erfordern kaum kognitive Anstrengung.
Im Gegensatz dazu sind Aufgaben, die bewusstes Denken erfordern, wie Finanzplanung oder das Treffen von Entscheidungen, deutlich anstrengender. Diese kognitive Anstrengung ist ein wesentlicher Bestandteil der Selbstregulation.
Herausforderungen bei der Selbstregulation
Wenn Menschen die Anstrengung als zu groß empfinden, neigen sie dazu, solche Aufgaben zu vermeiden. Besonders bei ADHS treten häufig maladaptive Strategien auf, wie:
Bei Menschen mit ADHS sind die kognitiven Funktionen, die für bewusstes und zielgerichtetes Handeln entscheidend sind, oft stärker eingeschränkt. Insgesamt sind sieben exekutive Funktionen für effektives Handeln in der Selbstregulation notwendig (die "Super Sieben").
Um zu verdeutlichen, dass die Anstrengungen bei der Nutzung von Selbstregulation keine eingebildete Schwierigkeit sind, sondern auf klar erkennbare strukturelle und prozessuale Defizite zurückzuführen sind, kann man sich das menschliche Gehirn als eine Managerin oder einen Manager eines Teams vorstellen:
Die Aufgabe dieser Führungskraft besteht darin, verschiedene Aufgaben zu koordinieren. Die "Mitarbeiter:innen" im Team sind die exekutiven Funktionen – wie Planung, Impulskontrolle, Arbeitsgedächtnis und Problemlösung. Bei Menschen ohne Schwierigkeiten in der Selbstregulation arbeitet dieses Team ziemlich effizient. Die Leitung kann sich darauf verlassen, dass die richtigen Mitarbeiter:innen zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind, um ihre Aufgaben zu erledigen.
Bei Menschen mit ADHS oder Schwierigkeiten in der Selbstregulation läuft dieses Team jedoch anders. Die Leitung muss ständig nachsehen, ob alle Mitarbeitenden bereit sind und ihre Arbeit machen. Oft fehlen sie gerade dann, wenn sie gebraucht werden, oder sie arbeiten nicht gut zusammen. Dadurch wird jede Entscheidung oder Handlung viel anstrengender, weil das Management (das Gehirn) nicht nur die Aufgaben selbst steuern muss, sondern auch ständig hinter den Mitarbeitenden (den exekutiven Funktionen) her ist, um sie überhaupt erst zu aktivieren.
Das zeigt, dass es nicht um "schwachen Charakter" geht, sondern darum, dass die Arbeit im Gehirn viel komplexer und weniger organisiert abläuft, was den alltäglichen Anforderungen zusätzliche Hindernisse in den Weg stellt.
Möchten Sie das Gelernte vertiefen? Dann habe ich eine kleine Hausaufgabe für Sie: Bereiten Sie in der kommenden Woche ein Abendessen mit Ihrer nicht-dominanten Hand zu.
Fragen zur Reflexion
Warum diese Übung?
Diese Aufgabe soll verdeutlichen, wie herausfordernd es ist, Routinen zu ändern. Genauso erfordert es bewusste Anstrengung, finanzielle Entscheidungen zu treffen, statt sich auf automatische, aber oft weniger hilfreiche Verhaltensweisen zu verlassen.
Wer spürt, wie ermüdend Denken und bewusstes Handeln sein kann, versteht besser, warum manche Menschen – insbesondere solche mit Schwierigkeiten in der Selbstregulation – dazu neigen, komplexe Denkprozesse zu vermeiden.
Kognitive Anstrengung verstehen: Anstrengung, die mit der Selbstregulation einhergeht, wird oft unterschätzt. Viele Menschen vermeiden unbewusst Handlungen, die ihnen helfen würden, weil sie die damit verbundene Anstrengung als zu hoch empfinden. Dieses Verständnis ist entscheidend, um wirksame Strategien zur Verbesserung der Selbstregulation zu entwickeln.
Negative Verhaltensmuster: Menschen, die nicht gelernt haben, mit kognitiven Anstrengungen umzugehen, entwickeln häufig Vermeidungsstrategien, die nicht selten maladaptiv sind. Dazu zählen unter anderem:
Das Verständnis darüber, warum Menschen so handeln, ist entscheidend. Viele haben in der Schule nicht gelernt, wie sie ihre kognitiven Fähigkeiten sinnvoll einsetzen und Strategien entwickeln können, um mit Anstrengungen umzugehen. Hier sollte ein Umdenken in der Bildung stattfinden.
a) Selbstbildung
Ein wichtiger Aspekt ist die Selbstbildung. Indem Menschen lernen, ihre eigenen Verhaltensmuster besser zu verstehen und die Schwierigkeiten zu erkennen, die sie unbewusst umgehen oder vermeiden, können sie beginnen, alternative Methoden zu entwickeln.
b) Verständnis im Umfeld
Es ist wichtig, dass das Umfeld (Schule, Beratung, Begleitung) erkennt, dass jemand nicht faul ist, sondern mit echten, unsichtbaren Hürden zu kämpfen hat. Dies schafft die Grundlage für positive Veränderungen.
Einschränkung: Auch wenn kognitive Fähigkeiten nicht wie Muskeln sind, die man einfach nur trainieren kann, können praktische Erfahrungen helfen, hilfreiche Strategien zu entwickeln. Diese Strategien unterstützen dabei, besser mit sich selbst umzugehen, insbesondere bei Schwierigkeiten mit der Selbstregulation und dem Denken.
Bewusstes Nutzen der Selbstregulation: Das Ziel ist, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Elemente der Selbstregulation aktiv eingesetzt werden. Dadurch können automatisierte, ungünstige Verhaltensweisen verhindert und gegengesteuert werden. Die Herausforderung besteht darin, eine Fähigkeit zu nutzen, die zusätzliche Ressourcen beansprucht – das ist manchmal die Quadratur des Kreises.
Coworking und Gruppenarbeit mit Erwachsenen
Unterstützung an „Punkten der Performance“
Können wir die Wirksamkeit finanzieller Bildung auch bei Schüler:innen (SuS) verbessern, die Schwierigkeiten in der Selbstregulation haben, unabhängig davon, ob sie ADHS haben oder nicht? Ja, das ist möglich! Im Folgenden finden sich einige Überlegungen dazu:
Konkrete und unmittelbare Anwendungen
Wiederholung und Vertiefung über längere Zeiträume
Punktuelle Unterstützung und „Performance-Punkte“
Selbstregulation verstehen lernen und u. a. spielerisch fördern
Umfeld ändern – Struktur schaffen
Reflexion und Selbstbeobachtung
Im August 2024 veröffentlichte das Institut für Finanzdienstleistungen e. V. (iff) in Hamburg die 40. Ausgabe seines Überschuldungsradars.
In dieser Ausgabe widmet sich Kirstin Wulf von bricklebrit den finanziellen Herausforderungen, mit denen Menschen mit ADHS konfrontiert sind.
Menschen mit ADHS haben aufgrund ihrer kognitiven Besonderheiten ein signifikant höheres Risiko, in finanzielle Notlagen zu geraten oder sich zu überschulden. Studien zeigen, dass diese Gruppe ein dreimal höheres Risiko für finanzielle Schwierigkeiten aufweist. Trotz der hohen Relevanz dieser Thematik fehlen spezialisierte Unterstützungsangebote in vielen Schuldnerberatungen.
Kirstin Wulf betont die Notwendigkeit von maßgeschneiderten Ansätzen in der sozialen Schuldnerberatung. Standardisierte Angebote berücksichtigen oft nicht die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit ADHS, was deren finanzielle Probleme verschärfen kann. Es ist dringend erforderlich, gezielte Unterstützung anzubieten, um sowohl präventiv als auch bei bestehenden finanziellen Schwierigkeiten wirksam zu helfen.
Lesen Sie den vollständigen Bericht des iff Hamburg über ADHS und Finanzen hier: Überschuldungsradar 40/2024 – iff Hamburg – Alternativ können Sie die relevanten Dokumente direkt von unserer Seite herunterladen.
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