Wiedersehen am Grenzbahnhof
Es war Januar. Ich kam von einem Vortragstermin, hatte meinen großen grauen Esel unter den Arm geklemmt und stand am zugigen Grenzbahnhof, der schon lange kein Grenzbahnhof mehr ist. Ein Gleis, zwei Richtungen. Für mich ging es zurück nach Berlin. Ich musste warten, nicht ungewöhnlich.
Der Grenzbahnhof der Erinnerung
Dieser Bahnhof war ja schon immer ein Warte-Bahnhof: Hier brauchten die Menschen Geduld: Als es die Mauer noch gab, hielten in Büchen letztmalig die Züge vor der Fahrt durch die DDR. Die DDR! Die hatte vor allem diesen sehr besonderen Geruch. Der hielt sich ewig in den alten Wagons der Deutschen Reichsbahn, die ja nicht alle mit dem Fall der Mauer plötzlich verschwunden waren. Vor 1989 war hier jedenfalls Respekt gefragt. Kein jugendliches Herumalbern und gute Laune, weil es in den Sommerferien mit anderen ins wilde Berlin ging. Die Grenzbeamten durchschritten den Zug, guckten streng und kontrollierten die Ausweise.
Ein unerwartetes Wiedersehen
35 Jahre später vertrieb ich mir die Zeit mit einem Anruf in Bochum bei einer Schulfreundin. Erinnerungen verbinden, viele von uns hatten Freunde oder Verwandte im damaligen Berlin. Trotzdem fror ich, der Wind zog über die Gleise, ich telefonierte und ich wartete. Weitere Menschen gingen am Bahngleis entlang und an mir vorbei.
Von weitem sah ich dann ein Paar, wobei mein Blick auf die Frau fiel, die mich an eine alte Freundin erinnerte. Nun war es nicht unwahrscheinlich, in Heimat-Nähe alte Bekannte zu sehen oder zu treffen. Aber mit der Heimat am Ohr und den Erinnerung im Kopf (und in der Nase), lässt sich das Gehirn leicht täuschen. Insofern war es ein Spiel: Sie ist es, sie ist es nicht, ja, doch, nein, vielleicht.
Das Geschenk der Freundschaft
Wir waren Freundinnen mit 16, hatten damals eine Fahrradtour von Lüneburg über Lübeck an die Ostsee gemacht und uns dann an unsere damaligen boyfriends verloren. Nun setzte mein Herz einen Schlag aus, als ich sie erkannte. Ja? Du? Wirklich? Und ob!
Vor uns lag eine gemeinsame Zugfahrt nach Berlin, weitere Erinnerungen und viele Worte. Der Zug fuhr sogar zu schnell für unsere Zungen. Seitdem ist sie wieder da. Und was soll ich sagen? Auch ohne ihre Diagnose wissen wir beide: Wir haben uns damals vermutlich durch die typischen ADHS-Herausforderungen als junge Frauen aus den Augen verloren. Aber unsere ADHS-Impulsivität und Spontanität führt uns seit diesem Tag wieder zusammen. Unsere Erfahrungen, unsere Gefühle und Gedanken: Mit diesem Geschenk hatte ich nicht gerechnet.
Die Bedeutung von Freundschaften
Freundschaften waren für mich nie selbstverständlich. Erst durch meine ADHS-Diagnose wurde mir klar, dass viele Menschen mit ADHS ähnliche Schwierigkeiten erleben. Ich erkannte, warum ich Freundschaften oft nicht halten konnte. Diese Begegnung zeigte mir auch, dass es viele schmerzhafte Verluste gab – Freundschaften, die ich nicht pflegen konnte, weil ich ständig neue Menschen kennenlernte und mich ablenken ließ. Aber es gibt Freundschaften, die tief in meiner Seele verwurzelt sind, die in ihrer Intensität und Bedeutung einzigartig sind – besonders jene aus der Teenagerzeit. Dass eine solche Verbindung nach 35 Jahren plötzlich wieder auflebt, hätte ich nie erwartet. Dass wir uns trotz der vielen Jahre ohne Kontakt sofort wieder so nah waren und ADHS nun nicht mehr trennt, sondern verbindet – das ist ein unerwartetes Geschenk.