ADHS-Moment: Wie eine zweite Haut – gewonnene Strategien und ihre Herausforderungen

Die Auswirkungen von Schulregeln und Scham auf das Selbstbild

Das Erlebnis, mit dem Pflaster auf dem Mund in die Ecke gestellt zu werden, hatte Folgen. Ein unmittelbar spürbarer Effekt war die plötzliche Ruhe in der Klasse. Ich verhielt mich wie alle anderen Kinder, meldete mich brav und wartete geduldig darauf, von der Lehrerin aufgerufen zu werden, um Fragen zu beantworten. Es kam weniger oft vor, dass mir unkontrolliert Worte entwichen. Doch wie konnte das sein?

Die Bedeutung der Schulregeln für das Verhalten von Kindern

Ich hatte klar verinnerlicht – auf allen Ebenen, sogar körperlich –, dass es eine Schulregel gab, die ich nicht mehr übertreten sollte. Eine deutliche Grenze, die ich achten musste. Der Schmerz der Scham und der Schuld bohrte sich wie ein Giftpfeil in mein Inneres. Ich schämte mich nicht nur wegen der wiederholten Regelverstöße, sondern auch für meine Persönlichkeit. Während andere scheinbar keine Schwierigkeiten hatten, schien es mir unmöglich zu sein. Als neugieriges Kind wollte ich lernen und mein Wissen zeigen, aber das zählte wohl nur, wenn ich mich an das schulische Muster hielt, die Form bewahrte und das komplexe Regelwerk einhielt.

Das langfristige Gefühl der Scham und seine Auswirkungen

Rückblickend hatte der Vorfall auch andere Auswirkungen. Ob das Bild vom Giftpfeil oder vom Samenkorn besser passt, ist nicht entscheidend. Auf jeden Fall keimte und wuchs über viele Jahre etwas in mir heran, das ich nicht benennen konnte, aber definitiv Einfluss auf mein Selbstbild und meine Interaktionen mit anderen Menschen auch als Erwachsene hatte. Ich war stets darauf bedacht, innerlich auf die Bremse zu treten, sobald ich Anzeichen von außen bemerkte (wenn ich sie bemerkte!), dass meine laute, extrovertierte Art andere störte oder sie sich gestört fühlten. Dieses ständige "Auf-die-Bremse-Treten" war eine Überlebensstrategie, um soziale Akzeptanz zu erhalten, eine Anpassung, die viele Kinder und Erwachsene mit ADHS kennen. Auch wenn es leicht wäre, dieses Handeln als respektvoll zu bezeichnen, war es nicht aus Überzeugung gespeist, sondern aus Angst und Verteidigung. Ich wollte gemocht werden, Teil der Gemeinschaft sein, aber wer ich wirklich war und warum, konnte ich durch das Erlebte noch weniger beantworten.


Sechsjähriges Kind Kirstin vor und nach dem Reingerufen-Sein in der Schule: Oben fröhlich ohne Pflaster, unten mit Pflaster auf dem Mund, als Symbol für Scham und die Herausforderungen von ADHS im Schulalltag.
1974 in der Lüneburger Heide: 'Nun war endlich Ruhe!' – so erinnerte sich erst kürzlich eine Klassenkameradin.


Die Komplexität von Über- und Unterforderung bei ADHS

Zurück zur Geschichte: Es ist nicht mehr nachvollziehbar, wann meine Mutter von dem Vorfall erfuhr. Eine Einordnung der Geschehnisse erfolgte erst viele Monate später im persönlichen Gespräch meiner Mutter mit der neuen Klassenlehrerin. Es ist unwahrscheinlich, dass sich letztere offiziell und rückwirkend zu dem Vorfall geäußert hätte. So bleibt es lediglich Spekulation, ob die leitende Position der Schulleiterin verhindert hat, dass der Vorfall mit dem Pflaster disziplinarische Konsequenzen gehabt hätte. Schließlich war das, was mir widerfahren ist, bereits damals als ein überholtes pädagogisches Vorgehen anzusehen.

Überforderung vs. Unterforderung im ADHS-Kontext

Meine neue Klassenlehrerin hatte mich in den ersten Wochen des ersten Schuljahres kennenlernen können und war dann überzeugt, dass ich sehr schnell dachte und es mir deshalb besonders schwerfiel, zu akzeptieren, dass andere Kinder länger brauchten, um ihre Gedanken zu formulieren. Auf Deutsch: Für sie war das ganze Ereignis ein deutlicher Hinweis auf meine Unterforderung. Daher war offensichtlich, was mir fehlte: Mehr Herausforderungen, zusätzlicher Lernstoff, und eine verstärkte Förderung. Trotz meiner nach wie vor unruhigen Art gelang es mir im Unterricht, mein Interesse und meine Neugier besser zu kanalisieren, um zu lernen. In der Grundschule gehörte ich stets zu den besten Schülerinnen und Schülern. Ich verdanke dies sicherlich auch der großartigen Unterstützung meiner Lehrerin.


Die Rolle der Lehrkräfte und ihre Wahrnehmung von Unterforderung

Und schon damals verstand man, dass Unterforderung für Kinder genauso schmerzhaft sein kann wie Überforderung. Aus heutiger Sicht wissen wir, dass Kinder mit ADHS oft eine Mischung aus kognitiver Über- und Unterforderung erleben, die zu ständiger Frustration führt. Unterforderung ist nicht gleichbedeutend mit "Leichtigkeit" – im Gegenteil: Sie erfordert enorme kognitive Kräfte für die Selbstregulation, um die Langeweile und den Mangel an angemessener Stimulation zu bewältigen. Diese Anstrengung bedeutet für das Kind eine ständige Herausforderung und kann, paradoxerweise, zu einer Überforderung führen.


Die Bedeutung von Wissen über ADHS: Reflexion und Erkenntnisse

Heute erkenne ich, dass die Geschichte viel mehr verdeutlicht als nur die schwierige Kindheitserfahrung eines einzelnen Kindes. Sie zeigt, wie komplex die Herausforderungen sind, mit denen Kinder mit ADHS konfrontiert werden, und wie sie oft eine Mischung aus Über- und Unterforderung erleben, die ständige Frustration zur Folge hat. Dieser Zustand erfordert viele kognitive Kräfte für die Selbstregulation, die oft kaum bewusst wahrgenommen werden.

Kompensationsstrategien und ihre langfristigen Folgen

Denn was häufig nicht bedacht wird: Kinder mit ADHS entwickeln zahlreiche Kompensationsstrategien, um die Herausforderungen in ihrem Alltag zu meistern. Diese Strategien, so vielfältig und kreativ sie auch sein mögen, sind oft "maladaptiv" – das bedeutet, sie bieten kurzfristige Lösungen, haben aber langfristig oft negative Folgen. Sie können zu einem ständigen Kreislauf von Vermeidung, Ablenkung und Verschiebung führen, um die Anforderungen zu bewältigen. Und dies alles geschieht, weil den Kindern – und oft auch den Erwachsenen in ihrem Umfeld – das Wissen fehlt, wie ihr Gehirn funktioniert und welche Unterstützung sie benötigen.

Die Rolle der exekutiven Funktionen bei ADHS

Heute wissen wir, dass viele Schwierigkeiten, die Menschen mit ADHS erleben, eng mit den sogenannten "exekutiven Funktionen" verbunden sind – den Fähigkeiten zur Selbstregulation, zur Aufmerksamkeitssteuerung und zur Impulskontrolle. Doch oft fehlt es an dem notwendigen Wissen und Verständnis, um diese Funktionen gezielt zu fördern und zu unterstützen.


Das unzureichende Wissen über ADHS: Ein kritischer Blick

Leider ist auch heute noch das Wissen über ADHS oft lückenhaft, was zu vielen Missverständnissen führt. Das Bild von ADHS beschränkt sich in der Gesellschaft häufig auf die klassischen Symptome von Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. 

Missverständnisse und Fehlwahrnehmungen über ADHS

Doch die Realität ist viel komplexer. ADHS betrifft nicht nur das Verhalten, sondern die gesamte Art und Weise, wie ein Mensch denkt, fühlt und die Welt erlebt.

Notwendigkeit gezielter Unterstützung und angepasster Lernmethoden

Kinder mit ADHS brauchen mehr als nur Verständnis – sie brauchen gezielte Unterstützung und Lernmethoden, die ihren besonderen Bedürfnissen gerecht werden. Nur so können sie lernen, ihre kognitiven Stärken zu nutzen und mit ihren Herausforderungen erfolgreich umzugehen. Wenn Kinder nicht lernen, wie ihr Gehirn funktioniert, und wenn ihnen nicht beigebracht wird, wie sie ihre einzigartigen Fähigkeiten am besten einsetzen können, entwickeln sie zwangsläufig Kompensationsstrategien, die auf lange Sicht nicht förderlich sind.



Schlussgedanken: Ein Appell für mehr Verständnis und Unterstützung

Es zeigt sich deutlich: Es braucht mehr Wissen, mehr Verständnis und eine gezielte Förderung. Pädagogische Systeme und gesellschaftliche Strukturen sollten besser darauf ausgerichtet sein, die spezifischen Bedürfnisse von Kindern mit ADHS zu unterstützen.

Die "zweite Haut" der ADHS-Strategien und ihre Langzeitfolgen

Denn nur so können wir verhindern, dass Kinder weiterhin unter den Auswirkungen unzureichender Diagnosen und Unterstützungsangebote leiden. Auch wenn früher geglaubt wurde, dass sich ADHS im Laufe der Zeit "verwächst", wissen wir heute, dass die als Kind erlernten Strategien, um mit den Herausforderungen umzugehen, sich oft über die Jahre hinweg verfestigen und zur "zweiten Haut" werden. Diese Gewohnheiten und Verhaltensmuster – die meist als Reaktionen auf einmal empfundene Schwierigkeiten entstanden sind – bleiben oft ein Leben lang bestehen, gerade wenn die ADHS-Diagnose spät erfolgt oder gar ausbleibt. 

 

Aus meiner Erfahrung ist das ein Phänomen, das viel zu selten besprochen wird: Welche dieser Gewohnheiten gibt es? Wie lassen sie sich als Reaktionen auf erlebte Herausforderungen erklären? Und vor allem: Ist es möglich, sich diese "zweite Haut" heute als Erwachsene bewusst anzuschauen und zu reflektieren, um zu prüfen, ob es andere, vielleicht effizientere Wege gibt, mit den Aufgaben, Problemen und Zielen des Lebens umzugehen? 

Wege zur Reflexion und Verbesserung im Umgang mit ADHS

Das ist die Frage, die ich mir selbst stelle – und die mich jeden Tag antreibt. Es ist auch der Grund, warum ich darüber spreche und versuche, anderen zu helfen. Denn ADHS ist keine Sackgasse, sondern ein anderer Weg, der verstanden und genutzt werden will.


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