Seit fast zwei Jahren weiß ich um mein ADHS. Schritt für Schritt habe ich die Symptome studiert, mein Leben durchleuchtet und beide miteinander verglichen. Dabei habe ich viel gelernt und über mich selbst erfahren können.
Es gibt viele Beobachtungen und Momente, die es wert sind, zu Papier gebracht oder mit anderen geteilt zu werden. Doch eine Sache habe ich schnell verstanden, die im Leben mit ADHS zu vielen unguten Momenten geführt hat, bei mir und bei anderen. Heute weiß ich um diese Besonderheit, und es ist mir besser möglich, neue Schlussfolgerungen zu ziehen, nicht immer in die gleichen Gefühlsfallen zu tappen und mich anders zu verhalten. Worum es geht? Ich erzähle es Euch, denn es ist heute erneut passiert. Dieses Beispiel steht für viele andere ...
ADHS-Moment: Ein Missverständnis im Anruf mit meiner Mutter
Ich rief meine Mutter an, um ihr zu berichten, dass ich den Auftrag, den sie mir erteilt hatte, umgehend erledigt habe. Es ging um die Erstellung eines Fotobuchs für eine liebe Tante. Ich war stolz, dass ich nicht alles auf die letzte Minute geschoben hatte, wie schon oft in meinem Leben, sondern alles rechtzeitig fertigstellen konnte. Daher war mein Anruf eigentlich gar nicht so wichtig; ich wollte meine Freude mit ihr teilen, vielleicht auch ein Lob dafür erhalten. Wenn ich darüber nachdenke, war das bestimmt auch ein Grund. Beim ersten Versuch war jedoch besetzt, aber ich erreichte sie direkt im zweiten Anlauf. Sie meldete sich nicht mit ihrem Namen, was eigentlich nie vorkommt, da sie mit einem anderen Anruf gerechnet hatte. Mein Bruder sollte ihr eine Telefonnummer geben, denn die aus ihrem Telefonbuch schien nicht zu stimmen. Meine Mutter wollte ihrer Enkelin zum Geburtstag gratulieren.
Aber was stimmte nicht? Hatte sie sie falsch notiert? War die Nummer nicht mehr aktuell? Diese Situation ist vielen von uns bekannt. Wir denken, das erledige ich mal kurz, und nun wird das Vorhaben unerwartet kompliziert und aufwendig, denn wir müssen klären, wo der Fehler liegt, Rückfragen stellen, vergleichen und es noch einmal versuchen.
Und genau in diesem Moment rufe ich an, mit einem ganz anderen Anliegen, mit einem anderen Projekt. Ihr Kopf war nicht frei. Sie war überfordert mit meinem Anruf zur falschen Zeit. Sie hat bestimmt gedacht (während sie sprach), was ist, wenn mich mein Sohn just in diesem Moment anruft und mich nicht erreichen kann? Bereits zu diesem Zeitpunkt ist sie ganz weit weg von "mal kurz". Und ich? Ich habe sofort gespürt, dass meine Mutter unkonzentriert war. Es wäre für sie – natürlich auch für mich – besser gewesen, aufzulegen und uns für später zu verabreden. Doch sie sagt nicht: Kirstin, warte, ich rufe dich gleich zurück. Ich muss hier noch etwas klären. Sie lässt mich meine Angelegenheit erzählen und dazwischenschieben, obwohl Kopf und Geist vielleicht bei der falsch notierten Telefonnummer meiner Nichte waren.
Und ich? Ich spürte sofort, dass sie nicht bei mir war. Obwohl sie sich über meine Nachricht mit dem Fotobuch freute, war sie nicht so, wie sie sein konnte und ich es gerne hätte: zugewandt, dankbar und froh. Sie war fahrig, abgelenkt, leicht gereizt und nicht hundertprozentig präsent. Doch sollte ich das persönlich nehmen? Nein. Denn heute weiß ich es besser. Vielleicht muss ich mich noch darin üben, Situationen schneller zu erkennen und entsprechend zu handeln, denn ich hätte mein Anliegen verschieben können.
Das, was meiner Mutter widerfuhr, hatte nichts mit mir zu tun. Sie war überfordert, zwei unterschiedliche Gespräche zu führen, und das war in diesem Moment zu viel für sie. Ja, sie ist heute Rentnerin. Doch es geht nicht um ihr Alter; ähnliche Situationen haben sich zwischen uns schon hunderttausend Mal ereignet. Wenn meine Mutter mit etwas beschäftigt war, spürte ich das. Doch ich habe das immer falsch interpretiert. In der Regel hatte SIE ein Problem, mit dem sie nicht umgehen konnte. Und ich war bereit, ihr Problem zu meinem zu machen. Ich habe ihr Verhalten, ihre Kühle, ihre kleine Unfreundlichkeit und Zerstreutheit persönlich genommen. Immer und immer wieder. Und dabei gleichzeitig an einem Konstrukt gebaut, das schnurstracks zu einer zentralen Aussage führte: ICH bin es nicht wert ...
Hätte ich früher gewusst und verstanden, wie ihr Verhalten zu verstehen und zu deuten ist, dann hätte ich bestimmt an vielen Stellen ein glücklicheres Leben führen können. Wenn es sich um unsere Mutter dreht, dann berührt uns das ganz tief drinnen. Endlich weiß ich um mein und vielleicht auch ihr ADHS. Und ich weiß ganz bestimmt, dass die Fähigkeit, nicht alles persönlich zu nehmen, insbesondere mit ADHS, bzw. im Leben mit Menschen mit ADHS eine äußerst wichtige Rolle spielt. Ich fange an zu verstehen. Ich beobachte, sammle Geschichten wie diese und versuche, sie einzuordnen. Schritt für Schritt ist es mir möglich, die Not auch meiner Mutter besser und schneller zu erkennen. Und was heißt das? Auch meine Mutter braucht Unterstützung!
Gut, dass auch ich ihr die Nummer meiner Nichte geben konnte.
Reflexion: ADHS und die Kunst, Missverständnisse nicht persönlich zu nehmen
Ja, ADHS kann nicht nur das eigene Leben, sondern auch die Beziehungen zu anderen stark beeinflussen. Das Beispiel des Gesprächs mit meiner Mutter macht deutlich, wie leicht wir uns in die persönliche Ecke gedrängt fühlen, wenn jemand emotional abwesend oder überfordert wirkt – besonders wenn wir selbst mit den Tücken des ADHS kämpfen.
Klar, es fühlt sich manchmal so an, als ob jede Verzögerung oder Ablenkung ein persönlicher Angriff wäre. Aber die Geschichte hat mir gezeigt, dass es oft weniger um uns geht als um die äußeren Umstände. Die Erkenntnis, dass das Verhalten meiner Mutter nicht unbedingt mit mir zu tun hatte, sondern eher mit ihren eigenen Herausforderungen, ist ein großer Schritt in Richtung Selbstverständnis und Mitgefühl.
Mit ADHS lernen wir – so geht es mir jedenfalls – unsere eigenen emotionalen Reaktionen besser zu steuern und uns bewusst zu machen, dass jeder Mensch seine eigenen Kämpfe hat. Es ist fast wie ein Abenteuer, ständig zu erkennen, dass nicht jeder unfreundliche Blick oder jede unkonzentrierte Bemerkung ein persönlicher Angriff ist. Vielmehr sind es einfach nur die kleinen Dramen des Alltags.
Manchmal hilft ein bisschen Geduld (ha!) und natürlich auch ein bisschen Humor, unsere ADHS-Hürden besser zu nehmen. Wenn wir uns daran erinnern, dass alle Menschen – wir selbst und unsere Lieben – ihre eigenen Herausforderungen haben, wird die Welt ein Stück verständnisvoller und vielleicht auch ein bisschen leichter. Jedenfalls will ich daran glauben!