Der Wunsch nach Beständigkeit: Ein täglicher Balanceakt
Vor ein paar Tagen habe ich es mal laut ausgesprochen: Wie großartig wäre es, wenn es mir jeden Tag einfach gut ginge? Nicht supergut. Nur ausreichend gut. Und wenn ich gleichzeitig schon wüsste, womit ich morgen zu rechnen habe. Dann könnte ich mich auf mich verlassen. Auf eine Stimmung setzen, die mich, mein Handeln und Fühlen nicht immer wieder unangekündigt untergräbt. Zumindest in gewissem Maße. Und es würde weniger Kraft kosten, eine nicht so gute Tagesform auszugleichen.
Ich glaube, das Erkennen eines Musters in den Abläufen meiner neurochemischen Zusammensetzungen war schon mal ein wichtiger Schritt. Wenn es ein solches Muster überhaupt gibt. Was ich meine: Mir ist klargeworden, wie stark die Tagesschwankungen bei mir sind und vermutlich immer schon waren. Ich habe da nie hingeguckt, sondern alles immer genommen, wie es war und kam. Ich habe mir keine großen Fragen gestellt. Wenn es um die Hintergründe der jeweiligen Tagesform ging, bin ich meist bei mir hängengeblieben, inklusive Schuldzuweisungen. Manchmal war es meine Kindheit, oft jemand, über den ich mich geärgert habe oder ganz allgemein, die täglichen Herausforderungen in Familie, Partnerschaft oder Beruf.
Aber vor allem habe ich die Zeit (unbewusst) damit verbracht, alles, was mit mir war, vor den Blicken und den Bewertungen anderer fernzuhalten. Ich bin nicht – so wie in guten Nachmittagssoaps üblich – zu einer Freundin gegangen und habe gesagt: Du, heute geht es mir nicht so gut. Kennst du das auch? Das ist doch nicht normal!
"Das ist doch nicht normal": Ein wichtiger Satz!
DAS IST DOCH NICHT NORMAL. Ein wichtiger Satz!! Wie ich war, schien normal. Und ich bin vermutlich immer davon ausgegangen, dass es anderen genauso geht wir mir. Obwohl das nicht sein kann, weil ich immer ja auch spürte, dass es bei mir in vielen Bereichen anders ist. Auch Menschen ohne ADHS sagen, dass sie nicht wissen, was der morgige Tag für sie bereithält. Das liegt schließlich in der Natur der Zukunft. Doch ich habe erst mit meiner Diagnose und der Beschäftigung mit meiner Disposition verstanden, dass ich Dinge erlebe, die ich jahrzehntelang für normal gehalten habe. Oder auch nicht, denn hätte ich sie für normal gehalten, dann hätte ich doch auch mal mit jemandem darüber sprechen können. Hab ich aber nicht. Ich bin noch nicht mal auf den Gedanken gekommen. Alles war so, wie es war. Und ich habe Strategien gefunden, mit meiner emotionalen Unstetigkeit umzugehen.
Beispiel für den Umgang mit emotionaler Unstetigkeit
Ein Beispiel? Als erstes fällt mir ein, dass ich – wenn ich Einfluss nehmen konnte – großzügige Abgabetermine und Fristen erbeten habe. Das ließ Luft für Tage, an denen nicht so viel möglich war. Da ich nicht zu denen gehöre, die erst in allerallerallerletzter Minute aktiv werden (weil ich dann Angstschübe bekomme und mich noch weniger konzentrieren kann), ziehe ich Projekte gern in die Länge. Das erzeugt in der Regel weniger Stress (jedenfalls habe ich das immer geglaubt), führt aber auch zu einer permanenten Arbeitsbelastung. Ständig gibt es Aufträge in der Pipeline. Kurze, heftige Arbeitseinsätze mit sich anschließenden Atempausen waren und sind für mich nach wie vor eine Seltenheit. Ich mag den Druck auf mich nicht erhöhen, aber mit dieser Art des Arbeitens komme ich niemals richtig zur Ruhe oder kann abschalten.
Ich habe alles akzeptiert, wie es war. Das hat verhindert, überhaupt hinzuschauen, nachzudenken, darüber zu reden, Hilfe zu holen, Veränderungen einzuleiten. Ich habe mein Leben und mein Sein (und somit auch diese vielen zusätzlichen Anstrengungen) als etwas gesehen, das allein in meinen Zuständigkeitsbereich fällt und somit niemanden etwas angeht. Meine Schwächen, meine Hürden, meine Kraftanstrengungen – und mein Geheimnis. Es gab überhaupt keinen Handlungsbedarf. Da lag ich ja mal richtig daneben.
Reflexion: Das Rätsel der Schwankungen verstehen und (irgendwann) bewältigen
Lange Zeit habe ich die Schwankungen in meiner Stimmung und meine täglichen Unsicherheiten als normales Verhalten betrachtet. Es war mein Alltag, und ich dachte, dass es bei anderen Menschen ähnlich sein müsste. Erst mit der Zeit habe ich erkannt, dass diese täglichen Herausforderungen keine Selbstverständlichkeit sind.
Die ständigen Wechsel zwischen guten und schlechten Tagen, die Unsicherheit darüber, wie der nächste Tag verlaufen wird – all das sind keine bloßen Launen des Schicksals, sondern möglicherweise Symptome einer tieferliegenden neurochemischen Disposition. Das Muster in diesen Abläufen zu erkennen, war ein erster wichtiger Schritt. Doch ein noch wesentlicherer Punkt ist, dass unser Gehirn häufig den Versuch unternimmt, die eigentlichen Aufgaben, die wir ihm stellen sollten – wie das Denken und Problemlösen – zu umgehen.
Wie das Gehirn uns in die Irre führen kann
Statt aktiv nach Lösungen zu suchen, neigen wir dazu, uns in einem Kreis aus Gefühlen, Annahmen und Ängsten zu verlieren. Dies ist ein Schutzmechanismus unseres Gehirns, um kognitive Anstrengungen zu vermeiden. Sobald wir diese Dynamik verstehen, können wir uns bewusster beobachten und lernen, wie wir diesen Kreislauf durchbrechen können. Es geht darum, nicht nur die Symptome zu erkennen, sondern auch zu verstehen, wie unser Gehirn versucht, uns von den tatsächlichen Herausforderungen abzuhalten.