ADHS-Moment: Das E-Rezept und die besondere Herausforderung für unser Gedächtnis


Die Frustration mit der fehlenden Digitalisierung

Gestern war es endlich soweit: Am Empfang bei meiner Ärztin bekam ich die Info, dass mein Rezept für die Salbe nun auf meiner Krankenkassenkarte gespeichert sei und ich spätestens in einer Stunde – meistens brauche es diese Zeit, damit es abrufbar sei – in die Apotheke gehen könne. Toll, hörte ich mich sagen. Denn die fehlende Digitalisierung geht mir an vielen Stellen des medizinischen Systems seit langer Zeit schon auf die Nerven. Krankenkassenkarten, die im Quartal persönlich vorgelegt werden müssen, Überweisungen, die ich von der Hausärztin abzuholen habe, damit ich sie per Post entsprechend weiterleite – und das natürlich immer fristgerecht – erschweren meinen Alltag mit ADHS bereits als Mid-50erin. Nun also das E-Rezept! Kein Papier mehr, dass ich zwar ordentlich und sauber in meine Tasche stecke, das ich aber selten ordentlich und sauber wieder heraushole. Weil ich, wenn ich schon unterwegs bin, noch dieses oder jenes erledige. Vorgänge, die dazu führen, dass mein kleines Stückchen Papier in der Tasche von anderen Dingen nach unten gedrückt wird.

Die Herausforderung der Papieraufbewahrung

Auch mein großes rotes Portomonnaie hat hierfür niemals eine funktionierende Alternative geboten. Wie auch immer ich es angestellt habe, die Papierränder meines Rezeptscheines erhielten in der Regel auch dort unschöne Knicke oder kleine Einrisse. Zwar war mir bewusst, dass sich eine Arztpraxis nie dazu äußern würde. Aber für mich waren es meist die Situationen im Leben, in denen ich darüber nachdenken musste, warum mir diese Mini-Aufgabe des Alltags einfach nicht gelingen wollte. Warum etwas, was mir nur für kurze Zeit anvertraut wird, nach kurzer Zeit schon so unschön aussehen kann. Ehrlicherweise fing das in der Schule mit den Hausaufgaben-Blättern zum Abgeben bereits an ... Wer kennt es nicht und kann ein Lied davon singen?

Die Herausforderung des E-Rezeptes: Ein Rückschritt?

Zurück zur neusten Entwicklung mit dem E-Rezept. Neulich hörte ich in einem Podcast jemanden sagen, dass Papier Hightech für Menschen mit ADHS sei. Ganz erschloss sich mir dieser Gedanke auf Anhieb nicht. Kam mir aber gestern zurück ins Bewusstsein. Vermutlich war es der Satz der Arzthelferin – warten Sie bitte noch ne Stunde, bevor Sie in die Apotheke gehen – dass mir klarwurde, was es nun von mir benötigt: Ich muss mich selbst daran erinnern, dass ich das Einreichen des Rezeptes in der Apotheke nicht vergesse. Denn: Es wird keinen Impuls von außen geben, um diesen Vorgang des Erinnerns bei mir wachzurufen. Kein Rezept, das am Kühlschrank hängt und ruft: Bring mich weg, bring mich weg! Was das Fehlen eines Gedächtnisankers, den ich in der Vergangenheit nie als solchen wertgeschätzt und in seiner wahren Funktion geachtet habe, bedeutet, kenn ich natürlich auch: Wie einfach wird es nun sein, dass es nicht passieren wird? Ich das Rezept nicht einlöse und den Vorgang – persönliches Vorsprechen beim Arzt, Neuaustellung des E-Rezeptes, Gang zur Apotheke – aufwendig wiederholen muss?



Die Notwendigkeit neuer Gewohnheiten

Beim Herausgehen aus der Praxis denke ich, die ich seit Kindertagen den Satz von Onkel Tobi aus dem gleichnamigen Kinderbuch im Ohr habe, entweder Na, für diesmal ist's nicht viel, das behalt ich, das behalt ich, das ist ja ein Kinderspiel! oder Das mache ich später, wenn ich X oder nach Y ... Ich weiß, dass viele Menschen weniger Probleme mit Situationen wie diesen haben. Jetzt oder nie!, ist für sie ein eher unbekanntes Phänomen. Das ist vermutlich der Grund, dass angesichts der vielen Erleichterungen für die Gesamtheit sich niemand Gedanken über die unsichtbaren Folgen für eine Gruppe von Menschen macht, die mit dieser Art von Alltagshürden zu kämpfen hat. Das wiegt um so schwerer, weil es sich um Vorgänge handelt, die sich im Verlaufe eines Lebens oft und mit zunehmenden Alter immer öfter wiederholen werden.

 

Um es deutlich auszusprechen: Für uns mit ADHS kann diese Innovation (erstmal) einen Rückschritt bedeuten. Warum? Da eine neue Gewohnheit aufzubauen ist. Sich das klarzumachen, ist meist schon der erste Schritt für Menschen wie mich, neue Wege der Alltagsbewältigung zu finden. Denn wenig überraschend läuft es darauf hinaus, will ich das Risiko des zusätzlichen Aufwandes für mich heute und in Zukunft möglichst gering halten. Um welche Überlegungen wird es also gehen? Wie wäre es mit diesen? 


Wie schaffe ich es, mich fristgerecht zu erinnern?

Wie schaffe ich es, mich fristgerecht zu erinnern? Und wie schaffe ich es, mich daran zu erinnern, dass ich mich in diesen Momenten erinnern muss, um mich später so zu erinnern, dass ich mich erinnere?

 

Ein Kinderspiel!


Reflexion: Erinnern und ADHS – Ein Kinderspiel?

Beim Schreiben dieses Artikels habe ich immer wieder über ein zentrales Problem nachgedacht, das mir im Alltag mit ADHS häufig begegnet: Werde ich mich im entscheidenden Moment daran erinnern, was ich tun soll? Und wenn ich es wahrscheinlich nicht ohne äußere Erinnerungen schaffen werde, was kann ich heute tun, damit in der Zukunft nichts schiefgeht?

Die Erkenntnis über das Erinnern

Ehrlich gesagt, diese Erkenntnis, dass es für mich keine Selbstverständlichkeit ist, mich an alles zu erinnern, was ich mir vornehme, ist noch relativ neu. Mit über 50 Jahren habe ich festgestellt, dass ich zwar ein paar gute Strategien hatte, wie das Rezept in Papierform am Kühlschrank, aber das hat nicht alle meine Probleme gelöst. Kennst auch Du die vielen kleinen Verspätungsgebühren in Bibliotheken oder die Verträge, die wir nie pünktlich gekündigt haben? In meinem Leben gibt’s bis heute noch viel Luft nach oben!

Die Rolle des Selbstbildes

Das eigentliche Problem ist, dass ich das ganze Thema nicht als mein „Problem“ gesehen habe – ich habe es nicht erkannt und somit nicht akzeptiert. Stattdessen habe ich mich mit allerlei Ausreden und Glaubenssätzen über Wasser gehalten, die nur dazu dienten, dass ich die Realität nicht sehen wollte. Dabei hätte ich schon viel früher ein Muster bei mir entdecken können und entsprechende Maßnahmen ergreifen können, um mir das Leben leichter (preisgünstiger!) zu machen.

Perfektion vs. Realität

Unser Selbstbild steht uns oft im Weg und verhindert, dass wir anerkennen, dass wir in manchen Dingen einfach nicht perfekt sind – oder manchmal sogar weit davon entfernt. Es wäre wahrscheinlich billiger gewesen, frühzeitig zu erkennen, dass 100 Prozent Perfektion (ist es überhaupt Perfektion, von 100 Prozent auszugehen??) vielleicht nicht erreichbar sind, aber 45 oder sogar 23 Prozent trotzdem teuer zu stehen kommen.

Die persönliche Erfahrung mit dem Arbeitsgedächtnis

Heute merke ich das besonders bei meinem Arbeitsgedächtnis. Es fällt mir oft schwer, mich an so einfache Dinge zu erinnern wie, wo ich meine Brille hingelegt habe. Es fühlt sich fast schon lächerlich an, darüber nachzudenken, aber die Realität ist, dass ich mir wünschte, ich könnte eine „Erinnerungs-Hotline“ anrufen, die mir sagt, wo ich meine Brille gerade abgelegt habe.

Fragen an Euch

Ich frage mich, wer von Euch auch schon mal so eine „Erinnerungs-Hotline“ gebrauchen könnte? Was sind Eure täglichen Herausforderungen und wie geht Ihr damit um?



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