Ein ständiger Geburtstagsdilemma
Im September habe ich Geburtstag. Jedes Jahr. Wenn ich auf mein nun doch schon stattliches Leben zurückblicke, fällt mir auf: Ich habe nur selten ein richtiges Fest veranstaltet. Eine Party gefeiert oder es krachen lassen. Dabei bin ich gerne mit Menschen zusammen und hebe (ungefragt) die Hand, wenn es um die Frage nach dem Geburtstag geht: Ich habe morgen, heute (gestern) Geburtstag! Ich freue mich über jede Gratulation.
Meine Mutter erinnert mich immer wieder an diesen einen Geburtstag in den 1980er Jahren, als ich mit einem roten Propeller-Haarreifen, einem Mitbringsel meines Bruders aus den USA, in die Schule ging. Unauffällig geht anders. Aber was habe ich schließlich von einem Geburtstag, wenn niemand darüber Bescheid weiß? Denn das gab es 1978. Ich wurde an meinem Geburtstag am Gymnasium eingeschult. Mir war klar, dass ich nicht wie sonst vorpreschen konnte. Das kam ja meist nicht so gut an. Und so saß ich im Klassenzimmer mit vielen anderen aufgeregten Kindern und wartete auf die Lehrerin, die ja einfach nur ins Klassenbuch hätte gucken müssen ...
Ich schweife ab: Feierlichkeiten bei mir zu Hause? Fehlanzeige. Im Restaurant, im Party-Keller oder einer anderen Location? Ebenfalls nicht. Was ist da los? Mir ist es doch schon lange klar, denn es ist immer der gleiche Ablauf. Im Mai oder Juni fängt es an. Da habe ich vor oder nach dem Schlafengehen tolle Ideen für ein großartiges Geburtstagsfest. Alle Leute, die ich kenne, werde ich einladen. Wir tanzen und haben Spaß miteinander. Ich erstelle eine Playlist, die Musik meines Lebens. Welches Lied erinnert mich an welchen Lebensabschnitt, an welches Ereignis? Küsse, Freundschaften, Reisen, Trennungen, Abenteuer oder andere wichtige Events? Wir haben alle Musik, die uns geprägt hat. Und so kommt es, dass ich schon sehr viele rauschende Feste bei mir zu Hause gefeiert habe. Im Juni und Juli eines jeden Sommers. In meinem Kopf.
Ab August kommt dann Frau Realität zu Besuch. Denn zu jedem schönen Fest gehört eine gute Planung. Viele Details müssen geklärt werden. Und in diesen steckt bekanntlich der Teufel. Sie ist Schuld, dass es auch in diesem Jahr kein Fest im September gegeben hat. Earth, Wind & Fire singen die nächsten Wochen ohne mich weiter. Die B52s tanzen zu meinem 52. Geburtstag an einem anderen kleinen Ort ("The love shack is a little old place where we can get together"). Was hat das nun alles mit ADHS zu tun? Sehr viel. Hinter den Kulissen spielt sich Folgendes ab: Wichtigste Frage: Kann ich mir ein Fest außerhalb meiner Wohnung leisten? Besser nicht. Ok, dann doch zu Hause.
Aber: Wie sieht es da aus? Was müsste aufgeräumt, repariert, ausgetauscht oder gar neu gekauft werden? Was steht schon lange an und ist immer noch nicht erledigt? Was werden die Gäste über meine Wohnung denken? Meine Gäste, die ALLE in halben Palästen leben (da siedle ich sie in meinen Gedanken an). Sie werden verächtlich auf mich blicken, mit Fingern auf mich und die dunklen Ecken in meiner Wohnung zeigen, sich von mir abwenden.
Dem, dem das Geld fehlt, muss wenigstens Stil, Ideen und Witz haben. Wenn ein altes Sofa auf dem Kopf steht, dann ist eben dies der Hingucker. In meiner Wohnung ist vieles nur alt oder defekt. Da ein Loch, ein Riss, eine abgeplatzte Seite. Den kreativen Köpfen unter meinen Gästen (und nicht nur denen), würde zudem auffallen, dass ich wenig Ideen und Einfallsreichtum bei der Gestaltung meiner Wohnung zeige.
Nun gut, kein Geld und keine Ideen? Dann wenigstens Bildung! Welche Bücher habe ich gelesen, welche Musik höre ich? Bin ich gereist und habe kuriose Dinge mitgebracht? Gibt es Fundstücke aus Antiquariaten, von Flohmärkten oder historische Belege der Familiensaga? Bin ich überhaupt interessant? Was macht mich aus?
Und so überdenke ich: meinen Wohlstand, meinen Stil, meinen Geschmack und mein Wissen. Regelmäßig stolpere ich im August über die Unzulänglichkeiten meines Lebens. Setze mich dem Bombardement der eigenen Ansprüche aus. Perfektionismus macht nicht glücklich. Aber wer ADHS hat, hat viel von diesem Anspruch. Und wer dazu eine Frau ist, bestimmt noch ein bisschen mehr.
Was soll ich sagen, es ist diese Kombination, die mich und mein Geburtstagsprojekt Jahr für Jahr ausbremst. Nein, ich bin nicht völlig unzufrieden. Doch indem ich mich mit den Vorreitern jeder Gattung messe, scheitere ich. Ich bin nicht reich, keine ausgefallene Künstlerin, habe nicht promoviert und verschlinge keine Unmengen an Weltliteratur. Dieser Perfektionismus, diese Angst vor Bewertung und Zurückweisung, das ist mein ADHS.
Es bleibt dabei, ich bin ich. Der Tag wird kommen, da zeige ich mich. In meiner Wohnung. Im Moment müsst Ihr alle noch auf meine Einladung warten. Aber irgendwann, da mache ich das Fest, von dem ich träume, und das auch Ihr nicht vergessen werdet! Großes ADHS-Ehrenwort.
Reflexion: ADHS und mein Perfektionismus
Wenn ich auf meine vielen unvollendeten Geburtstagspläne zurückblicke, wird mir eines klar: Ich stehe mir oft selbst im Weg. Die anfängliche Euphorie im Mai, die in einem Feuerwerk an Ideen gipfelt, trifft bald auf die Realität im August, wo Perfektionismus und Angst vor dem Urteil anderer mich bremsen. Statt rauschender Feste gibt es häufig nur nervige Gedankenspiele – ein klassischer ADHS-Tanz zwischen großen Träumen und der knallharten Realität, die ich nur selten aufgelöst bekomme.
Es ist faszinierend, wie wir – in meinem Fall ich – uns oft von gesellschaftlichen Erwartungen und dem Druck, alles perfekt machen zu müssen, einfangen lassen. Statt mich von diesen äußeren Anforderungen erdrücken zu lassen, nehme ich mir immer wieder vor, das Ganze mit mehr Humor zu sehen. Warum nicht über die eigenen Stolpersteine schmunzeln und mir die Erlaubnis geben, nicht perfekt zu sein? Schließlich ist es auch okay, wenn der Geburtstag nicht in einem Party-Palast, sondern in meiner eigenen, manchmal chaotischen Wohnung gefeiert wird. Erinnerungen an die schönsten Feste bei Freunden zeigen mir: Oft waren es die improvisierten und unperfekten Arrangements, die am meisten Spaß gemacht haben.
ADHS bringt nicht selten einen besonderen Perfektionismus mit sich, der oft mehr Stress als Freude bedeutet. Überlegungen wie Ist mein Sofa gut genug? oder Hält meine Wohnung den ‚Expertenblicken‘ stand? machen das Feiern zur anspruchsvollen Mission. Doch dieser Perfektionismus ist nur ein weiterer Teil von mir – einer, den ich nicht länger als Hindernis, sondern als Herausforderung betrachten möchte. Dazu gehört, sich über diese Gedanken hinwegzusetzen und mutig zu sein, das Unperfekte auszuhalten.
Der wahre Schatz liegt darin, mich selbst zu akzeptieren und meine Einzigartigkeit zu feiern. Es geht nicht darum, den Erwartungen anderer gerecht zu werden, sondern darum, sich selbst treu zu bleiben und das Beste aus dem Moment zu machen. Mit einem Lächeln und einer Portion Humor kann ich lernen, die Eigenheiten und Herausforderungen von ADHS zu umarmen und den Weg zu meinem Wunschfest in einem etwas anderen Licht zu sehen.
Ich will ja eigentlich gar nicht alles perfekt machen. Ich möchte mich selbst und mit anderen feiern – in all meinen Farben und Facetten. Der Weg mag holprig sein, aber er ist einzigartig und wertvoll. Also auf zur nächsten Runde im Abenteuerpark ADHS – mit einem Augenzwinkern und der Freude, einfach ich selbst zu sein.
PS: Darum habe ich meinen letzten Geburtstag im Park als Kindergeburtstag gefeiert. Das Foto von mir mit dem Zylinderhut meines Großvaters beweist es!