Ein Abi-Treffen mit unerwartetem Zukunftspotential
Im September 2017 fuhr ich zum Abi-Treffen in meine Heimatstadt Lüneburg. Dort übernachtete ich im Elternhaus meiner alten Schulfreundin. Wir nutzten das Treffen, um auch ein bisschen Zeit miteinander zu verbringen.Neben den vielen Geschichten, die uns am Vorabend unsere ehemaligen Klassenkameraden anvertraut hatten, erzählte sie mir von sich und ihren Kindern. Vieles lief in der Familie zu diesem Zeitpunkt nicht rund. Ich berichtete ihr von meinem Alltag in Berlin und genoss die Zeit mit ihr. Wir sahen uns viel zu selten zwischen Bochum und Berlin, wo es uns vor 30 Jahren jeweils hinverschlagen hatte. Aber bei Tee mit Milch und norddeutschen Franzbrötchen war unsere Welt in Ordnung.
Die überraschende Lektüre
Da sie mit dem Auto angereist war, hatte sie einen dicken Ordner mit Lektüre für mich dabei. Ich weiß noch, dass ich dies alles ohne jeden Bezug zu mir zur Kenntnis nahm. Ich lachte bei der Aussicht, das schwere Material mit nach Berlin zu nehmen. Ich muss im Nachhinein gestehen, dass ich so voller Eindrücke war, dass ich die Geschichten aus ihrer Familie und damit ihre eigene Betroffenheit nur am Rande erfasste. Und so erschien es mir beim Abschied keine große Sache, dass sie mir statt des Ordners wenigstens einen Artikel in die Hand drückte, den sie mich bat, zu lesen. Bereits auf der Rückreise im fremden Blabla-Auto und nach Ankunft in Berlin am Abend der Bundestagswahl hatte ich die beschrifteten Seiten schon vergessen. Am nächsten Tag fielen mir die Zettel fast zufällig in die Hand, als ich mich an meinen Schreibtisch setzen wollte, um die Woche produktiv zu beginnen. Doch es kam anders.
Der Moment der Erkenntnis
Der erste Eindruck
Es war der 25. September, ein Montag, und seit diesem Tag ist meine Welt nicht mehr die, die sie vorher war. Ich begann ohne Erwartungen zu lesen und geriet nach dem ersten Absatz ins Stocken. Ich holte tief Luft, unterbrach meine Lektüre und schaute aufgeregt nach draußen in den Berliner Himmel. Ich war auf der einen Seite gefangen und klebte an den Worten der Autorin. Auf der anderen Seite überfiel mich eine große Unruhe, und ich war plötzlich dermaßen abgelenkt von den vielen Gedanken, die in der Kürze der Zeit quer durch meinen Kopf schossen. Die Gefühle fuhren Achterbahn, mir wurde heiß und kalt.
Dr. Helga Simchen, Kinderneurologin im Ruhestand, schrieb über ADHS. Vier Tage später erschien ein kleines Interview mit mir in der Bild-Zeitung. Dort stand es zum ersten Mal schwarz auf weiß: Kirstin Wulf (50). Ich hatte zwei Wochen zuvor Geburtstag gefeiert.
Reflexion: Der Moment der Erkenntnis
Der Moment, als ich am 25. September den Artikel über ADHS las, war für mich ein einschneidendes Erlebnis. Zum ersten Mal hörte ich ganz allgemein über ADHS und konnte innerhalb von Sekunden die Verbindung zu meinem eigenen Leben herstellen – sowohl zu meinem bisherigen als auch zu meinem jetzigen und zukünftigen Leben.
Die erste Reaktion war eine Mischung aus Überraschung und Verwirrung. Plötzlich machte vieles Sinn, was mir vorher völlig unverständlich erschien, obwohl ich schon lange nach Erklärungen gesucht hatte. Diese neue Erkenntnis brachte jedoch nicht nur Klarheit, sondern auch eine Welle von Emotionen mit sich. Es war erstaunlich und zugleich befreiend zu erkennen, dass es etwas gab, das so präzise auf mich zutraf, obwohl weder ich selbst noch andere Menschen in meinem Leben jemals darauf hingewiesen hatten.
Es war ein unerwarteter und gleichzeitig befreiender Moment. Normalerweise habe ich gelernt, neue Gedanken und Ideen erst nach ein paar Tagen zu bewerten, um meine Impulsivität zu zügeln. Doch in diesem Fall war mein erster Impuls genau richtig. Die Emotionen und das Gefühl, endlich die Antwort gefunden zu haben, nach der ich so lange gesucht hatte, waren überwältigend. Es war fast so, als wäre ich endlich nach Hause gekommen.